Was Sie sofort tun können: Zehn
Empfehlungen
Beginnen Sie, einfache Fragen zu stellen;
hören Sie auf, Europapolitikern zu glauben!
Mitmachen in zehn Empfehlungen.
Von Harald Welzer
1.
nutzen Sie Ihre Handlungsspielräume; haben Sie Spaß dabei: Die Rettung der Welt und zum Selber denken!
2. Trauen Sie endlich Ihrem Gefühl, dass um
Sie herum ein großes Illusionstheater stattfindet. Die Kulissen
simulieren Stabilität, aber das Stück ist eine Farce: Immerfort
treten dicke Männer auf und brüllen „Wachstum!“, Spekulanten
spielen Länderdomino, und dauernd tänzeln Nummerngirls mit
Katastrophenbildern über die Bühne. Das Publikum ist genervt und
wütend, bleibt gleichwohl bis zum Ende der Vorstellung sitzen. Aber:
Wann wird das wohl kommen?
3. Verlassen Sie besser die
Vorstellung und beginnen Sie, ganz einfache Fragen zu stellen. Zum
Beispiel: Warum muss man immer mehr arbeiten, wenn man immer mehr
arbeitet? Warum werden die Schulden größer, wenn immer mehr gespart
wird? Warum schrumpft alles andere, wenn die Wirtschaft wächst?
4.
Suchen Sie zusammen mit Ihren Freundinnen und Freunden nach
Antworten. Zum Beispiel: Weil alle Idioten auch mehr arbeiten. Weil
das Gesparte in fremde Taschen wandert. Weil viele börsennotierte
Unternehmen staatsferne Parallelgesellschaften bilden.
5.
Beschließen Sie, ab sofort nicht mehr mitzumachen, falls Ihre
Antworten Sie beunruhigen.
6. Fangen Sie damit an,
aufzuhören. Hören Sie auf, Europapolitikern zu glauben. Hören Sie
erst recht auf, Wirtschaftsforschungsinstituten zu glauben. Und hören
Sie um Gottes willen damit auf, sich widerspruchslos erzählen zu
lassen, irgendeine Entscheidung sei alternativlos gewesen. So etwas
gibt es in Demokratien nicht.
7. Wenn Sie jetzt so weit sind,
dass Sie nicht mehr jeden Blödsinn tolerieren, nutzen Sie Ihre
Handlungsspielräume. Sie leben in einem der reichsten Länder der
Erde, Sie sind hervorragend ausgebildet, Sie haben Spaß am Leben und
finden sich ganz gut. Warum zum Teufel machen Sie jeden Tag dasselbe
und nie etwas anderes?
8. Wie Sie Ihre Spielräume nutzen
sollen? Schauen Sie sich einfach an, was andere machen. Es gibt doch
unglaublich tolle Ansätze und Projekte: Energiegenossenschaften,
Nachbarschaftsgärten, fairen Konsum, lokale Währungen, großartige
Stiftungen, Unternehmen, die sich dem Wachstumszwang verweigern.
Schreiben Sie politischer, falls Sie Journalist sind. Forschen Sie
für eine andere Zukunft, falls Sie in der Wissenschaft sind.
Wechseln Sie die Pausenthemen, falls Sie am Band arbeiten. Kaufen Sie
anders ein, falls Sie ein Restaurant haben. Fragen Sie, wo der Fisch
herkommt, wenn Sie essen gehen. Interessieren Sie sich für die
Zukunft Ihrer Schüler, falls Sie Lehrerin oder Lehrer sind.
Fusionieren Sie mit einem Kindergarten, wenn Sie ein Seniorenheim
leiten. Denken Sie ans Höllenfeuer, wenn Sie einem der vier großen
Energiekonzerne vorstehen. Produzieren Sie cradle to cradle, wenn Sie
eine Fabrik besitzen. Riskieren Sie etwas, wenn Sie sich für
intellektuell halten.
9. Versuchen Sie irgendwo
dazuzugehören, wo Sie stolz sagen können: „Wir machen das
anders!“ Zum Beispiel eine Kultur der Achtsamkeit entwickeln, Ideen
interessanter finden als Erfahrung, nicht auf Kosten anderer leben,
oder was Ihnen sonst noch einfällt. Zukunftsfähig zu sein bedeutet
das Gegenteil vom business as usual: lernend, fehlerfreundlich,
reversibel zu handeln.
10. Bilden Sie Labore der Zukunft und
haben Sie Spaß dabei. Vergessen Sie das „5-vor-12“-Blabla der
Ökobewegung und das Gerede von der „Weltgemeinschaft“ und der
Notwendigkeit globaler Lösungen. Niemand hat an Ihrer Wiege
gestanden und mit hohler Stimme gesagt: „Lars, du bist zu uns
gekommen, um die Welt zu retten!“ Es genügt völlig, wenn Sie
beginnen, mit Ihrem Leben, Ihren Lieben und Ihrem Land
verantwortungsvoll und zukunftsfähig umzugehen. Das aber bitte
gleich.
Stornieren Sie Ihre nächste blöde Flugreise (Sie wollen
da sowieso nicht hin), bestellen Sie Ihr nächstes Auto erst gar
nicht (es wird Sie unglücklicher machen, weil Sie glaubten, es mache
Sie glücklicher), kaufen Sie nichts mehr, was zu billig ist (denn
dann hat irgendjemand zu wenig bekommen). Säbeln Sie in Ihre
Weihnachtsgans und teilen Sie Ihren Kindern oder Enkeln mit, dass Sie
ab jetzt Ihr Leben ändern werden. Das wird Ihnen helfen, es
tatsächlich zu tun (denn jetzt können Sie nicht mehr zurück).
Harald Welzer, 52, lehrt am Kulturwissenschaftlichen Institut
Essen und veröffentlichte zuletzt mit Claus Leggewie „Das Ende der
Welt, wie wir sie kannten“ (S. Fischer).